REANIMATION | PAN kunstforum niederrhein 2022

REANIMATION | EMMERICH 2022
Ausstellungsansicht

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REANIMATION

von Peter Lodermeyer

Schemen aus farbigem Licht und farbigen Schatten, die in steten, einander kompliziert überlagernden, gegenläufigen Bewegungen über die Wandflächen wandern, sich dabei verändern, verformen und verschwinden, während bereits neue Formationen auftauchen – in jedem Moment der Betrachtung einer Projektionsarbeit des Kölner Künstlers Rolf Kirsch ist das Auge damit überfordert, das Geschehen vollständig im Blick zu behalten. Kaum hat man eine Situation erfasst, hat sie sich auch schon verändert. Man steigt nie zweimal in denselben Fluss der Lichtbilder, die auf den Wänden des abgedunkelten Ausstellungsraums oder aber auf kreisrunden, hinterleuchteten Schirmen aus mattiertem Acrylglas in Erscheinung treten. Nichts wiederholt sich, immer neu und immer anders bieten sich die ungreifbaren, formlosen Formen dar. Ihre lautlose Bewegung fasziniert unmittelbar und zeitigt eine schwer zu beschreibende emotionale Wirkung. Man fühlt sich an kindliche Schattenspiele erinnert – wie ja überhaupt die Faszination für Licht- und Schattenbilder tief in der menschlichen Psyche verankert zu sein scheint, da bereits Säuglinge gebannt auf die Projektionen ihrer Kinderlampen schauen. Man darf aber nicht übersehen, dass diese Kunstwerke nicht nur aus der visuellen Wirkung der Licht-Schatten-Formen bestehen. Nullus effectus sine causa – das apparative Setting der Projektionskunstwerke von Rolf Kirsch liegt offen zutage: Man kann die Lichtquellen – fest montierte oder bewegliche farbige Leuchten – und die rotierenden, bizarr geformten Objekte, die ihre Schatten werfen, deutlich sehen. So sind alle technischen Gegebenheiten erkennbar, die für die Licht- und Schattenbildung ursächlich sind. Der Zusammenhang von Technik und Bild selbst wird damit thematisch. Weit über ihre visuelle Gelungenheit hinaus sind diese Arbeiten das Ergebnis einer langen, intensiven Beschäftigung des Künstlers mit Grundsatzfragen zum Wesen des Bildes in unserer durch Technik geprägten Welt. Sieht man sie im Gesamtzusammenhang von Kirschs Œuvre, wie es sich über knapp dreißig Jahre hinweg in immer neuen Anläufen entwickelt hat, so wird nachvollziehbar, dass es sich dabei trotz ihres installativen Charakters, um die – vorläufige – Summe seiner langen Auseinandersetzung mit Malerei und dem Status des gemalten Bildes handelt.

Die Kunst von Rolf Kirsch ist in hohem Maße bildtheoretisch informiert und konzeptuell ausgerichtet. Seine Malerei diente nie der Herausbildung eines Personalstils, seine wechselnden stilistischen Mittel richten sich vielmehr nach seiner jeweiligen Fragestellung an das künstlerische Bild. Eine erste Station auf dem Weg, der letztlich zur Konzeption der ProjektionsAusstellungsansichten führte, war die Serie mit dem Titel „How to use the world“ aus den 1990er-Jahren. Es handelt sich dabei um Bild-Text-Ausstellungsansichten in dem anachronistisch wirkenden Medium der Blaupause oder Cyanotypie. Die Bilder-„Geschichten“ sind offenbar Gebrauchsanleitungen für technische Geräte – jedoch bemerkt man beim Betrachten bald, dass sie verwirrend und unlogisch sind. Das ist nicht verwunderlich, da der Künstler sie manipuliert, verschiedene Anleitungen miteinander vermischt und das Ganze so geschickt montiert hat, dass die Bruchstellen nicht auffallen. Man kann diese sabotierten Bedienungsanleitungen als Ironisierung der Erfahrung verstehen, die sicher jeder schon gemacht hat, der Piktogramme in solchen Anleitungen nicht zuordnen und die oft schlecht aus anderen Sprachen übersetzten Handlungsanweisungen nicht nachvollziehen konnte. Aber die Ausstellungsansichten gehen weit über diesen humoristischen Aspekt hinaus und zielen auf eine grundsätzliche Technikkritik, die einen wichtigen Stellenwert im Werk von Rolf Kirsch einnimmt. Unsere fundamental technisierte Welt besteht zunehmend aus Objekten und Funktionsabläufen, die unverständlich und schwer darstellbar sind. Die meisten technischen Geräte sind heute black boxes, weil sie ein Innenleben aufweisen, das sich allenfalls noch Spezialisten erschließt, und die man benutzt, ohne ihre Funktionsweise zu begreifen. Der Ernstfall der Technik aber ist immer ihr Nichtfunktionieren. Bedienungsanleitungen sind genau dazu da, Geräte, die noch nicht oder nicht mehr funktionieren, in Gang zu setzen. Die Ausstellungsansichten der Serie „How to use the world“ bringen dies selbstreflexiv auf den Punkt, denn es handelt sich dabei um Bedienungsanleitungen, die nicht funktionieren und daher selbst einer Anleitung bedürfen: Man muss die Idee dahinter kennen (oder intuitiv erfassen), damit sie „funktionieren“ – als konzeptuelle Kunstwerke. Der Extremfall des Nichtfunktionierens ist der Unfall. In der Serie „Rhythmus der Statistik“ befasste sich Kirsch mit immer wieder stattfindenden Ereignissen wie Auto- und Busunfällen, Zugentgleisungen, Schiffshavarien, Flugzeug- und Helikopterabstürzen. In lapidaren kleinformatigen Ölskizzen, die sich an Pressefotos orientieren, hielt er zwischen 2002 und 2013 gut 150 solcher Unfallszenarien fest

– übrigens stets unblutig, ohne Opfer oder Rettungskräfte, denn es geht ihm nicht um die menschliche Tragödie, sondern um die jeder Technologie inhärente Möglichkeit, ja Unvermeidlichkeit des technischen Versagens.
Der französische Philosoph und Modernekritiker Paul Virilio hat den Unfall pointiert als das eigentliche Wesen der technischen Innovation beschrieben: „Der Schiffbruch [ist] also die ‚futuristische’ Erfindung des Schiffs und der Flugzeugabsturz jene des Überschallflugzeugs, genauso wie Tschernobyl jene des Kernkraftwerks ist“. Unfälle sind eine intrinsische Erscheinungsform der Technik, und dies zeigen Kirschs Unfallszenen in nüchterner Abfolge. In dem Virilio-Zitat ist das Wort „futuristisch“ nicht im kunsthistorischen Sinne gemeint – dennoch ist daran zu erinnern, dass der italienische Futurismus diejenige Stilrichtung der Moderne war, die den Konnex von Kunst und Technik als erste thematisierte. Es ist frappierend, dass Federico Tommaso Marinetti seinem „Futuristischen Manifest“ von 1909 eine Einleitung voranstellte, in der er tatsächlich einen Autounfall schildert. Als er mit seinem Wagen nachts zwei Radfahrern ausweicht, landet Marinetti im Abflussgraben einer Fabrik. Nachdem das Unfallauto aus dem Schlamm gezogen ist, heißt es: „Alle glaubten, mein schöner Haifisch wäre tot, aber eine Liebkosung von mir genügte, um ihn wieder zu beleben; schon ist er zu neuem Leben erwacht, schon bewegt er ich wieder auf seinen mächtigen Flossen!“ Die Reanimation des technischen Geräts ist die Voraussetzung für das unmittelbar an diese Schilderung anschließende Manifest und seine Verkündigung der neuen „Schönheit der Geschwindigkeit“. Die Kunst von Rolf Kirsch ist so etwas wie die Gegenthese zum Futurismus. Bewegung und Geschwindigkeit sind futuristische Obsessionen, ihre Steigerung, die Beschleunigung, „ist ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft.“ Kirsch legt in „Rhythmus der Statistik“ den Fokus stattdessen auf die gerne verdrängte Wahrheit der Technik: die Möglichkeit des Unfalls als abrupter, gewaltsamer Stillstand. Seine Ölskizzen sind Stillleben des havarierten technischen Apparats, nature morte, tote Gegenstände.

In den folgenden Serien zog Kirsch weitere malerische Konsequenzen aus seinen Überlegungen. In den „Kollisionen“ zoomte er sich in großformatigen Ölbildern näher an die zerbeulten, deformierten Unfallfahrzeuge heran. Durch ihren Nahblick, der eine genaue Identifizierung der Materialien, der Formen und ihrer räumlichen Position erschwert, führen diese Ausstellungsansichten in die Abstraktion. Folgerichtig zeigten die Serien „Soft Impact“ und „Abstracts“ formatfüllend Motive von Faltungen und Stauchungen eines unbestimmbaren Materials und näherten sich damit dem klassischen kunsthistorischen Thema des Faltenwurfs an. Der nächste, folgerichtige Schritt bestand dann darin, das Sujet der Faltungen aus der Malerei heraus und mittels zerknautschter Leinwände oder verformten Dosenblechs als Reliefs der Serie „Folds“ in den realen Raum zu bringen. Mit dem Kulturwissenschaftler Aby Warburg, der Details wie flatternde Haare und Gewandfalten auf die in ihnen gespeicherten seelischen Energien hin untersuchte, könnte man hier analog von den Materialverformungen als den „Pathosformeln“ der technischen Moderne sprechen: Spuren der im Aufprall freigesetzten kinetischen Energie.
Mit seinen plastischen „Requisiten“ ging Kirsch den umgekehrten Weg: Statt der Verformung einer rechteckigen Ausgangsform bestehen diese skurrilen, annähernd sphärischen Plastiken aus der Zusammenfügung zahlreicher, mit Heißluftkleber zusammengeleimten, kleinteiligen Fundstücke. Es sind, nach der Definition von Claude Lévi-Strauss, „Bricolagen“, gekennzeichnet „durch Verwendung der Überreste von Ereignissen: ‚odds and ends’, würde das Englische sagen, Abfälle und Bruchstücke“ – in diesem Fall Elektroschrott, Kabel, Stecker, Halterungen, Klemmen, Spiralfedern und vieles mehr, Trümmer und Bruchteile funktionsuntüchtig gewordene technischer Geräte, deren unterschiedliche Farben und Materialien Kirsch durch den Überzug mit Acrylfarbe homogenisiert hat.

Wie lässt sich nun an diesen odds and ends, den toten Trümmern, dem technoiden Plastikmüll, ein künstlerischer Lebensfunken entzünden? Marinetti will sein Unfallauto mittels „Liebkosungen“ wiederbelebt haben und sang daraufhin in rückhaltloser Technikbegeisterung das Loblied der motorisierten Moderne. Rolf Kirsch hat, ein Jahrhundert später, ein ernüchtertes, ein dialektisches Verhältnis zur Technik. Seine Technikkritik ist aber keine Technikfeindschaft, daher erfolgt die Reanimation der „Requisiten“ eben mit technischen Mitteln, mit rotierenden LED-Leuchten, die das erzeugen, was elementarer „Stoff“ der Malerei ist: Licht und Farbe. In den Grundfarben des additiven RGB-Farbraums (Rot, Grün und Blau) angestrahlt, werfen die Schrottplastiken farbige Schatten an die Wände und vollführen in diesem Anwendungsfall künstlerischen Reyclings ein Lichtbilderkino von magischer Schönheit.

REANIMATION | EMMERICH 2022
Ausstellungsansicht

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